VW – Was Compliance daraus lernen kann!
01. Dezember 2015 / Erschienen in Compliance Praxis 4/2015, S. 6
Hypothese 1: „Tone at the Top“ ist nicht bloß Theorie
Sehr stark ausgeprägte, autokratische Machtverhältnisse, bzw ein – wie es bereits bezeichnet wurde – „Zwei-Mann-Oligopol“ oder auch eine vorherrschende „Gutsherrenart“1
sind für die Implementierung eines wirkungsvollen Compliance-Management-Systems abträglich, weil sämtliche Normen für korrektes Verhalten den realen Machtverhältnissen sofort und widerstandslos weichen.
Die Vorbildwirkung der Unternehmensleitung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Führungskräfte werden laufend von ihren Mitarbeitern „beobachtet“, bewertet und oft auch modelliert, Letzteres nach dem Motto: „So musst Du werden, dann kommst Du hier nach oben“. Nach allen führenden Compliance-Standards setzt ein wirksames Compliance-Management-System voraus, dass das Management klare Botschaften pro Compliance sendet und integres Verhalten auch selbst vorlebt.
Hypothese 2: Compliance ist eine Kultur- und keine Detail-Frage
Compliance bzw ein Compliance-Management-System ist nicht nur eine Ansammlung von Regeln gemischt mit einem Schulungsprogramm und vereinzelten, halbherzigen Audits. Compliance ist vor allem das Bestreben nach ethisch und moralisch richtigem Verhalten, abseits von konkreten Regelwerken. Im Zuge der Etablierung und des Betriebs von Compliance-Management-Systemen werden oft die Risikobereiche übersehen, die in den internen operativen Abläufen entstehen, wie zB hier durch die bewusst falsche Programmierung einer Software. Compliance-Management-Systeme können dem begegnen, indem das System auf weitere Bereiche erstreckt und der Detaillierungsgrad erweitert wird. Damit stoßen die meisten Compliance-Management-Systeme aber wohl an ihre ressourcenmäßigen Grenzen. Hier kann und muss eine umfassende Integritätskultur Abhilfe schaffen. Dazu gehören zB der bereits angesprochene „Tone at the Top“, die Verankerung von Compliance in das Entlohnungssystem sowie Hinweisgebersysteme.
Hypothese 3: Compliance braucht eine Fehlerkultur
Ein positiver Umgang mit Fehlern bzw das Zulassen von Eingeständnissen, zB dahingehend, dass bestimmte (technische) Lösungen nicht im Rahmen bestimmter wirtschaftlicher Parameter erzielt werden können, ist ein notwendiges Fundament für regelkonformes Verhalten. Wenn der Druck in der Organisation sehr stark ist, „auf Teufel komm` raus“ Ergebnisse zu erreichen, dann ist der Boden für die Anwendung illegaler Mittel bereitet.
Hypothese 4: Nicht alles kann im Scope von Compliance liegen
In vielen Unternehmen wird wohl der Programmiervorgang einer Software nicht im Scope von Compliance sein, weil a) das Risiko in der Produktion selbst meist in anderen Abteilungen vermutet wird, zB im Qualitätsmanagement und b) sich dieser Vorgang vermeintlich nicht nach außen richtet, wie zB die Bestechung von Amtsträgern oder die Marktabsprache.
Und auch künftig kann und soll nicht alles im Scope von Compliance sein, aber die ausgewählten Risikofelder müssen regelmäßig als Ergebnis des Risk Assessments überprüft und falls erforderlich ergänzt werden.
Hypothese 5: Auch Techniker können ein Compliance-Risiko darstellen
Geläufigerweise ortet man ein Compliance-Risiko bei Führungskräften in den Bereichen Einkauf, Vertrieb und Finanzen, weniger im Bereich der Produktion und noch weniger bei der Programmierung von Software durch Ingenieure. Manche sind auch der Annahme, dass Techniker von Grund auf ehrliche Menschen sind, weil sie stets die mathematische Wahrheit suchen und dieser emotional verbunden sind.
Wirtschaftswissenschaftlich Ausgebildete sollen dagegen eher jene Lösung bevorzugen, die wirtschaftlich am meisten bringt und Juristen wird nachgesagt, dass sie sich die Realität sowieso argumentativ zurechtbiegen.
Diese Klischees sind wahrscheinlich nicht durchzuhalten, weil zB auch Techniker derartig unter Druck geraten können, dass sie sich von der mathematischen Regeltreue entfernen.
Hypothese 6: Es geht nicht nur um eine Verwaltungsstrafe
Hätte man im Zusammenhang mit geschönten Messwerten gleich an den Vorwurf des Betrugs gedacht? Entspricht ein Produkt nicht öffentlich-rechtlichen Vorgaben, wird das Risiko wohl in der Regel lediglich mit einer Verwaltungsstrafe veranschlagt werden. Dass sich jemand durch eine Softwareprogrammierung bzw durch eine falsche Angabe zu den Abgaswerten eines Fahrzeuges getäuscht fühlt und dadurch ein Schaden bei diesem eintritt, scheint abstrakt wahrscheinlich möglich, für manche aber vielleicht etwas weit hergeholt.
Gerade im Verhältnis zu Verbrauchern muss in der Risikobeurteilung die potenzielle Wahrnehmung und Einstellung der Konsumenten, von Konsumentenschutzverbänden und Behörden berücksichtigt werden, insbesondere weil ein Regelverstoß durch die Betroffenheit einer Masse an Personen sehr rasch eskalieren kann. Auch die Beratungsindustrie trägt dazu bei, dass Ansprüche geltend gemacht werden, an die zunächst wohl nur wenige gedacht haben.
Hypothese 7: So etwas wie nützliche Illegalität gibt es nicht
Im Zusammenhang mit dem VW-Ereignis ist wieder die Diskussion entfacht, ob es eine dem Unternehmen nützliche Illegalität geben kann, zB indem durch eine Softwareprogrammierung eine Verteuerung der Produktion vermieden wird und sich das Unternehmen einerseits Kosten erspart und andererseits seine Wettbewerbsfähigkeit durch einen kompetitiven Verkaufspreis des Produktes erhält.
Illegalität nützt dem Unternehmen nie, weil es dieses einem Risiko aussetzt, das selbst als Schaden bezeichnet werden kann. Im strafrechtlichen Sinn wird diese Exposure auch nicht durch Gewinne kompensiert, die durch die Illegalität erzielt werden.
Hypothese 8: Qualität geht vor Quantität
Wenn man den Medienberichten Glauben schenken darf, basiert die Causa VW auf systematischem Vorgehen. Gerade wiederkehrende bzw dauerhafte Regelverstöße stehen im Fokus eines Compliance-Management-Systems und weniger das Einzelversagen.
Geht man davon aus, dass VW über eine Fülle an Compliance-Regeln verfügt, stellt sich natürlich die Frage, weshalb eine derartige, über Jahre geübte Praxis nicht auffallen konnte.
Hier zeigt sich, dass es bei der Verhinderung von Regelverstößen nicht darum geht, so viel wie möglich zu verbieten, sondern mit Augenmaß die größten Risiken zu identifizieren und systemisch zu adressieren und die „Schwarzen Schwäne“ durch eine Integritätskultur bestmöglich abzusichern.
Hypothese 9: Compliance ist Teil der Wettbewerbspolitik
Viele international tätige Unternehmen unterschätzen den wettbewerbspolitischen Aspekt eines Compliance-Verstoßes und damit die finanziellen Auswirkungen eines regelwidrigen Verhaltens. In manchen Jurisdiktionen werden Compliance-Verstöße eines ausländischen Unternehmens gerne dazu verwendet, mit besonderer Strenge vorzugehen und sehr bedeutende Geldbußen zu verhängen. Damit wird indirekt die heimische Wirtschaft gestärkt.
Während in Kontinentaleuropa dieser Aspekt noch keine wirkliche Rolle spielt, ist in manchen anderen Ländern Compliance ein Instrumentarium, das marktpolitische Macht entfalten kann. Diese wettbewerbspolitische Realität hat in das Compliance Risk Assessment zur Beurteilung des Risikoausmaßes einzufließen.
Fußnoten
- Vgl Immenga, „Dieselgate“: Neue Erkenntnisse für eine effektive(re) Compliance Kultur?, Betriebs Berater 34/2015 I. ^
Autoren
DDr. Alexander Petsche
Prof. DDr. Alexander Petsche, MAES (Brügge) ist Partner bei Baker McKenzie Wien und auf Internal Investigations spezialisiert. Er ist Co-Leiter eines zertifizierten Lehrgangs zur Ausbildung als Com...